Reisebericht Bernd Ostendorf

Ein Wochenende in Cochabamba/Bolivien
mit Besuch einer Missionsstation und von zwei Gefängnisanstalten


Es beginnt bereits zu dämmern, als ich in La Paz am höchstgelegenen Flughafen der Welt in ca. 4.100 m schwer atmend langsam die Stufen der Gangway der Boing 727 der Aerosur emporsteige, die mich nach Cochabamba bringen soll. Als Exportleiter einer deutschen Firma befinde ich mich zur Zeit auf einer Rundreise durch Südamerika.

Deutsche Freunde haben mich gebeten, die Gelegenheit zu nutzen, um einige dringend benötigte Medikamente an eine Missionsstation in Cochabamba zu überbringen. Die Abendsonne schickt ihre letzten glühenden Strahlen auf die schneebedeckten Berge der Kordilleren als die Maschine abhebt.

In Cochabamba holt mich die deutsche Missionsschwester Ingrid Pentzek am Flughafen ab, begleitet von zwei jungen Indiomädchen, die mich mit einem schüchternen "Buenas Noches" begrüssen. Im Toyota Land Cruiser Geländewagen, einer Spende der katholischen Patengemeinde Krefeld, fahren wir auf mehr oder weniger befestigten Straßen zur Missionsstation, wo wir von Pater Erich Williner, einem Priester aus der Schweiz herzlich begrüßt werden.

Während des Abendessens und später bei einer Flasche chilenischen Weines erzählen mir die beiden ihre Lebensgeschichten.

Pater Erich ist 1933 in Grächen im Wallis geboren. Nach seiner Weihe zum katholischen Priester wurde er 1964 Vikar in Zermatt und später Vikar in Visp, einem Ort im Rhonetal.

1966 wurde er nach Bolivien geschickt, um dort im Urwald in Popoy eine Missionsstation für die Indios zu gründen. In Bolivien sind ca. 90% der Bevölkerung katholisch, ein Ergebnis der jahrhundertealten Missionsarbeit des Jesuiten-Ordens.

Da viele der Indios krank waren, hat Pater Erich sehr bald in Popoy auch eine Krankenstation eingerichtet, die von deutschen Ärzten und Krankenschwestern betrieben worden ist. Eine dieser Krankenschwestern ist die 1934 geborene Ingrid Pentzek, die hier fern von der Heimat ihre Lebensaufgabe gefunden hat. Über viele Jahre hat das Missionsteam im bolivianischen Urwald gearbeitet, hat aus den umherziehenden Indios sesshafte Bauern gemacht. Pater Erich hat Land roden lassen, um Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Alle Bauern haben in sogenannten Kooperationen gearbeitet und so gemeinsam das erwirtschaftet, was man zum Lebensunterhalt benötigt.

Das Geld für Aufbau und Unterhalt der Missionsstation wurde zum Teil von verschiedenen kirchlichen Organisationen zur Verfügung gestellt und größtenteils durch Spenden von katholischen Gemeinden, die durch Kollekten, Bazare und Festveranstaltungen immer wieder aufs neue ihre Mitglieder zu Spendenaktionen aufgerufen haben und aufrufen. Im Laufe der Jahre wurden in der Pfarrei, die Pater Erich betreut, und die eine Ausdehnung von über 70 Kilometern hat, weitere Gemeinden/Kooperationen gegründet, die ebenfalls überwiegend durch deutsche und schweizerische Spendengelder finanziert worden sind.

In den Achtziger Jahren hat die Drogenmafia dann immer mehr Bauern für sich gewinnen können. Der Anbau und die Verarbeitung von Koka zu Kokain ist für die Bauern weitaus lukrativer als der Anbau von Getreide, Kartoffeln oder Gemüse. Als das Missionsteam sich dagegen wehrte, wurde es massiv bedroht und war gezwungen, den Urwald zu verlassen.

In Cochabamba hat man dann 1985 eine neue Aufgabe übernommen, die mindestens genauso wichtig ist: Man hat sich um die Kinder von Gefängnisinsassen gekümmert.

Im Gegensatz zu deutschen Verhältnissen werden die Häftlinge in bolivianischen Gefängnissen nicht verpflegt. Es ist Aufgabe der Familien, die Inhaftierten mit Lebensmitteln, Kleidung usw. zu versorgen. Da viele der in Cochabamba inhaftierten Männer und Frauen aus kleinen Dörfern des Hochlandes stammen, ist ihre tägliche Versorgung nur dann möglich, wenn ihre ganze Familie nach Cochabamba zieht und sich dort als Freigänger ebenfalls im Gefängnis einquartiert. Inhaftierte Frauen bringen ihre Kinder mit, weil ihre Männer Geld verdienen müssen. Die Gefängnisse sind für diesen Ansturm jedoch nicht gerüstet, und dementsprechend schlecht sind die Lebensbedingungen für die Kinder.

Pater Erich hat als Gefängnisseelsorger schon bald damit begonnen, ein Kinderdorf zu errichten, in dem die Kinder der Gefangenen betreut werden bis die Eltern wieder nach Hause können. Dem Kinderdorf hat man eine Schule angegliedert. Durch eine gute Schulausbildung will man erreichen, daß die Kinder den sozialen Aufstieg schaffen und später nicht gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt ebenfalls durch Straftaten zu bestreiten.

Aufgrund der sehr stark zunehmenden Drogenkriminalität hat sich die Zahl der Gefangenen in den letzten Jahren verzehnfacht. Bolivien zählt zu den ärmsten Ländern dieser Welt, und deshalb ist die Justizverwaltung nicht in der Lage, genügend Gefängnisraum zur Verfügung zu stellen. Als Folge dieser Missstände sind die Gefängnisse hoffnungslos überbelegt.

Es ist spät geworden in dieser Nacht und für den nächsten Tag haben Pater Erich und Schwester Ingrid mich eingeladen, das Kinderdorf zu besuchen und auch einen Blick in eines der acht Gefängnisse zu werfen. Todmüde besteige ich das Bett, das man für mich im Büro des Paters aufgebaut hat.

Am Sonntagmorgen werde ich durch die Sonne geweckt, die durchs Fenster ins Zimmer fällt. Nach einem kurzen Frühstück fährt Pater Erich mit seinem Jeep ins erste Gefängnis, um dort mit den Gefangenen und ihren Familien die Sonntagsmesse zu feiern, von dort geht es dann ins nächste Gefängnis usw. Ein Mitarbeiter der Missionsstation fährt auf den Markt, um Lebensmittel für die Häftlinge des Untersuchungsgefängnisses zu kaufen, während Schwester Ingrid mit mir ins Kinderdorf Christkönig Suizo Aleman-Aldea fährt.

An einem Berghang oberhalb von Cochabamba liegt das Dorf in einem weitläufigen Areal. Es macht einen sehr freundlichen und sauberen Eindruck. Im Hintergrund erhebt sich der gewaltige Schulneubau. So habe ich mir eine Missionsstation in Bolivien nicht vorgestellt. Überwältigt bleibe ich für eine Weile stehen und nehme die Details in mich auf. Mir fällt auf, daß ich keine Menschen sehe. Dafür hat Schwester Ingrid sofort eine Erklärung parat: Es ist Sonntag, und deshalb sind die ca. 670 auswärtigen Schüler nicht gekommen, und die 211 Dorfkinder warten in ihren Wohnungen, um mich, den Spendenüberbringer aus Deutschland, zu begrüßen.

Schwester Ingrid holt aus einem Vorratsraum einen Karton mit Gebäck und einige Tüten mit Lutschern. So bewaffnet, betreten wir das erste Haus. Ein Sprechchor von ca. 20 Kindern begrüßt uns lautstark. Man hat Lieder eingeübt, die einige Kinder auf der Panflöte spielen, während die anderen dazu singen.

Ich nehme auf einem kleinen Kinderstuhl Platz und erzähle den Kindern ein wenig von meiner Arbeit und vom fernen Deutschland. Gespannt und mit großen klaren Augen hören sie zu und beobachten mich dabei, einige sehr schüchtern, andere mit einem freundlichen offenen Lachen. Als es an das Verteilen der Plätzchen und der Süßigkeiten geht, ist das Eis gebrochen. Jeder will mir die Hand schütteln und sich mit einem Kuss bedanken. Es dauert fast drei Stunden bis wir jedes Haus besucht haben.

Die Häuser haben jeweils die gleichen Grundrisse und die gleichen Aufteilungen im Erdgeschoß und in der ersten Etage. Eine Wohnung besteht aus einem großen Wohnraum mit integrierter Küche, zwei Schlafzimmern für die Jungen mit separaten Duschräumen und Toiletten, einem Schlafraum für die Mädchen, ebenfalls mit angeschlossenen Sanitärräumen, einem Zimmer mit Dusche und WC für die Gruppenleiterin, und einem Abstellraum. Die Gruppenleiterin wird liebevoll "Tia" genannt. Man hat ganz bewusst darauf verzichtet, sie „Mutter“ zu nennen, damit die Beziehung der Kinder zur leiblichen Mutter erhalten bleibt.

Samstags dürfen die inhaftierten Eltern in Begleitung der Gefängniswärter ins Dorf kommen, um den Vormittag mit den Kindern zu verbringen. Da fast alle Inhaftierten mehrere Kinder haben, werden im Kinderdorf Geschwister stets in der gleichen Gruppe untergebracht, um auch hier die familiären Bindungen zu erhalten.

Das Frühstück wird durch die Tias in der eigenen Küche zubereitet, während man für die Hauptmahlzeiten im neuen Schulgelände eine Großküche eingerichtet hat. Drei Köchinnen verarbeiten pro Woche folgende Lebensmittelmengen: 2 1/2 Zentner Kartoffeln, 1 1/2 Zentner Reis, 1 3/4 Zentner Nudeln, 1 Zentner Haferflocken, 1 1/2 Zentner Zucker, 10 Liter Öl, 70 kg Fleisch, 800 Eier, 3 1/2 Zentner Mehl, 1 Zentner Suppeneinlagen wie Graupen oder Griess, 1/2 Zentner Sojamehl - und Berge von Gemüse und Salat. Jeden Tag werden ca. 800 Vollkornbrötchen gebacken. Der gesamte Einkauf wird ausschließlich durch Spendengelder finanziert.

Neben der Küche liegt die Waschküche, die mit zwei deutschen Industriewaschmaschinen und einer Haushaltswaschmaschine ausgerüstet ist. Daneben gibt es eine ganze Reihe von gemauerten und gefliesten Waschtrögen in verschiedenen Größen. An jedem Werktag hat ein Haus Waschtag. Dann müssen die Kinder ihre Buntwäsche mit der Hand waschen. Auf diese Art und Weise werden sie mit den Waschmethoden vertraut gemacht, die in bolivianischen Familien üblich sind, denn Waschmaschinen gibt es nur in den Haushalten der Besserverdienenden. Die Warmwasser-Erzeugung für Waschküche und Duschen erfolgt umweltfreundlich mittels Solarzellen - in Bolivien kein Problem, weil dort fast immer die Sonne scheint.

Im Schulgebäude sind außerdem eine Schreinerei und eine Nähstube untergebracht. Der Schreiner baut und repariert alle Möbel für Schule und Wohnungen und zimmert für die Neubauten Fenster und Türen. In der Nähstube ist eine Schneiderin den ganzen Tag damit beschäftigt, die Kinderkleidung zu reparieren. Bei 211 Kindern geht ständig etwas kaputt. In der Nähstube stehen auch einige Nähmaschinen, an denen die Kinder üben können, wie man aus gespendeten Stoffresten selbst "Traumkleider" anfertigen kann.

Die Kinderkleidung stammt zum größten Teil aus der Schweiz oder Deutschland. Sie wird für viel Geld in 20kg-Postpaketen nach Bolivien geschickt, weil dann der hohe Einfuhrzoll entfällt. Die Gebühr für ein derartiges Paket beträgt mehr als 100 Schweizer Franken. Die Spender wenden pro Jahr mehrere tausend DM auf, um dafür zu sorgen, daß die Kinder eingekleidet werden können.

Ferner sind im Schulgebäude eine Arztpraxis und eine Zahnarztpraxis eingerichtet worden. Mediziner aus Cochabamba kommen regelmäßig in die Aldea, um die Kinder ärztlich und auch psychologisch zu betreuen. Eine ausgebildete Krankenschwester steht den 880 Schülern an jedem Schultag zur Verfügung. Die benötigten Medikamente stammen ebenfalls aus Spenden.

Das Schulgebäude ist 102 m lang und hat drei Etagen. Bereits vor der endgültigen Fertigstellung ist es zu klein, weil zu viele Eltern aus der Nachbarschaft ihre Kinder nicht in die staatliche Schule sondern in die Aldea schicken möchten. Diese Kinder, die oft aus ärmlichen Verhältnissen stammen, müssen ein Schulgeld bezahlen, das sich reduziert, wenn mehrere Kinder einer Familie eingeschult werden. Das Schulgeld deckt aber bei weitem nicht die entstehenden Kosten ab. 1997 konnte die Aldea zum ersten Mal eine Klasse zum Abitur führen.

Die Besichtigung des Kinderdorfes und der Schule haben mich aufs Äußerste beeindruckt. Sie zeigen, was wenige Leute, die sich für eine Sache voll engagieren, selbst unter den widrigsten Umständen erreichen können. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, dass das ganze Projekt erst ermöglicht worden ist durch die vielen tausend Spenden, die in Deutschland und der Schweiz in den letzten 25 Jahren aufgebracht worden sind.

Nachdem wir im Pfarrhaus ein köstliches, typisch bolivianisches Mittagessen eingenommen haben, machen wir uns auf den Weg ins Frauengefängnis. In einem der unscheinbaren Vororte von Cochabamba parken wir den Land Cruiser in einer Seitenstraße, die zum Teil mit übelriechendem Abwasser

überflutet ist. Die Temperatur hat inzwischen 38° C erreicht. Die Luft liegt wie Blei über der Stadt. Nach wenigen Metern erreichen wir zwischen den Häuserzeilen eine Hofeinfahrt, vor der zwei bewaffnete Polizisten stehen. In der Hofeinfahrt befindet sich ein blankgescheuerter Holztisch, an dem vier uniformierte Frauen sitzen. Einen Gefängniseingang habe ich mir vollkommen anders vorgestellt.

Schwester Ingrid wechselt ein paar Worte mit dem Wachpersonal und ich erhalte die Berechtigung, das Gefängnis zu betreten.

Durch eine kleine Tür treten wir in den Innenhof, der ca. 30 x 40 m groß ist. Was ich dort sehe, verschlägt mir die Sprache. Minutenlang bleibe ich an der Tür, die sich hinter mir geschlossen hat, stehen und nehme das Bild in mich auf. Vor mir kauern auf dem nackten Betonboden 300 bis 400 Männer, Frauen und Kinder, zum Teil vollkommen apathisch, zum Teil beschäftigt, zum Teil in eine lautstarke Unterhaltung verwickelt. An den drei Außenwänden entlang stehen Verschläge, die viel Ähnlichkeit mit deutschen Hundezwingern haben. Auch diese sind überfüllt mit Menschen. Vor den Hütten stehen Gaskocher, auf denen einige Frauen Suppe kochen oder undefinierbares Fleisch grillen. Über allem liegt der beißende Geruch von Schweiß, Grillrauch und Kinderpinkel.

Schwester Ingrid läßt über die Lautsprecheranlage die Krankenschwester ausrufen, damit sie mir den "Kreißsaal" zeigt. Da die Frauen tagsüber Besuch von ihren Männern bekommen dürfen, laufen schätzungsweise 30% der Frauen mit dicken schwangeren Bäuchen herum. Früher wurde auf dem nackten Betonboden entbunden. Schwester Ingrid hat es erreicht, daß man rechts neben dem Eingang einen Raum geschaffen hat, ca. 1,5 m breit und 2,5 m lang, der als Krankenstation genutzt wird. In diesem "Kreißsaal" gibt es einen kleinen Tisch, einen Stuhl, einen eisernen Arzneimittelschrank und eine Krankenliege. Das ist alles.

Tief beeindruckt folge ich Schwester Ingrid auf dem Rundgang durch das Lager. In der Mitte des Innenhofes gibt es mehrere betonierte Wasserbecken, in denen die Frauen die Wäsche waschen. Diese Anlage dient nicht nur den dort inhaftierten 240 Frauen und Kindern, sondern wird auch noch als Lohnwäscherei genutzt. Die Justizverwaltung stellt nur den Gefängnisraum zur Verfügung und sorgt für das Wachpersonal. Für den Lebensunterhalt ist jeder Inhaftierte selbst zuständig bzw. seine Familie. Durch Lohnwäscherei kann man einige Bolivianos verdienen, für die man dann in einigen kleinen Shops einkaufen kann. Diese kleinen Geschäfte werden von "Alteingesessenen" betrieben, die sich bereits das Anrecht auf einen Hundezwinger erworben haben. Neuankömmlinge müssen auf dem nackten Beton unter freiem Himmel übernachten. Die Missionsstation versorgt sie zumindest mit Decken, Matratzen und zum Teil mit gebrauchter Kleidung. Für 240 Frauen gibt es zwei Toiletten. Der einzige Raum, wo man sich bewegen kann, ohne Angst haben zu müssen, auf jemanden zu treten, ist die kleine Kapelle von ca. 4 m x 2 m, die Pater Erich errichtet hat. Hier schlafen nur wenige Säuglinge auf dem Boden, und es gibt Gelegenheit für Schwester Ingrid, sich mit einigen Müttern über ihre Kinder zu unterhalten, die im Kinderdorf Unterschlupf gefunden haben. Eine Mutter, die bereits vier Kinder im Dorf hat, bittet unter Tränen, daß Schwester Ingrid noch zwei weitere aufnimmt, und daß nur das jüngste bei ihr im Gefängnis bleiben muß. Die Schwester muß leider ablehnen, weil das Dorf mit 211 Kindern bereits überbelegt ist.

Über eine schmale Treppe, steil wie eine Hühnerleiter, steigen wir auf den Dachboden eines Anbaues. Noch einmal verschlägt es mir die Sprache. Unter dem schrägen Wellblechdach sind mit Brettern und Plastiksäcken viele kleine Verschläge abgeteilt. Schwester Ingrid und ich kriechen in einen solchen Verschlag, der ca. 1,2 m x 1,5 m groß ist. An der Rückwand gibt es in ca. 1 m Höhe eine Holzpritsche, auf der ein etwa sechs Monate altes Kind Reis aus einem Alu-Blechnapf ißt. Daneben sitzt der Vater, während die Frau am Eingangsloch auf einem Gaskocher eine Suppe kocht. Der Raum unter und über der Pritsche ist vollgestopft mit Kleidung, Vorräten und einem kleinen Fernsehapparat. Es ist unerträglich heiß in dem Stall, in den man in Deutschland kein Schwein einsperren dürfte. Die Frau bittet uns, Platz zu nehmen. Schwester Ingrid hockt sich auf die Pritsche, während ich mich auf einem kleinen Kinderstühlchen zusammenfalte. In Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten nimmt die Frau auf dem Kindertöpfchen Platz und erkundigt sich nach ihren beiden Kindern, die im Missionsdorf wohnen. Sie ist seit vier Jahren hier eingesperrt und muß weitere fünf Jahre absitzen. Sie hat als Drogenkurier gearbeitet und ist deshalb verurteilt worden. Sie wohnt im Hochland und ist zusammen mit zwei weiteren Frauen mit dem Bus nach Cochabamba gefahren. Ein Bekannter hatte sie gebeten, ein Paket mitzunehmen. Angeblich hat sie nicht gewußt, daß in dem Paket Kokain war. An einer Straßensperre hat man das Kokain gefunden, und sie wurde in Cochabamba inhaftiert. Ihr Mann ist mit den beiden Kindern nach Cochabamba gezogen, um sich um seine inhaftierte Frau kümmern zu können. Glücklicherweise wurden die Kinder im Missionsdorf aufgenommen. Sie gehen dort zur Schule und sollen in fünf Jahren zusammen mit der Familie wieder nach Hause zurückkehren.

Voraussetzung für eine Haftentlassung ist, daß man in der Hauptstadt daran denkt, die Entlassungsurkunde auszustellen. Nach der Verurteilung werden die Dokumente der Inhaftierten in die Hauptstadt nach Sucre geschickt und geraten dort gelegentlich in Vergessenheit. Ein Kollege von Pater Erich hat eine juristische Ausbildung und leistet immer wieder Beistand in Gerichtsfragen.

Halb benommen von der Höhe, der schlechten Luft und den Eindrücken verlassen wir kurz darauf das Frauengefängnis, um noch im Untersuchungsgefängnis vorbeizuschauen. Wir treffen dort auf Pater Erich, der sich anschickt, die Sonntagsmesse mit den Inhaftierten zu feiern.

Der Zustand in diesem Gefängnis läßt sich nur mit einem KZ vergleichen:
In schwer bewachtem Gelände gibt es fünf Einzelzellen, jede ca. 1 m breit und 2 m tief. Diese dunklen Löcher werden vorn mit einer Gittertür abgeschlossen. Die Zellen sind absolut leer. Man schläft oder sitzt auf dem nackten Beton - und das in einer Höhe von ca. 3000 m, wo die Nächte sehr kalt sein können.

Das Hauptgebäude besteht aus drei Räumen, der erste so groß wie eine Doppelgarage, ca. 5 m x 5 m, der zweite Raum ca. 5 m x 3 m groß. In diesen beiden Räumen leben ca. 60 Männer. Im letzten Raum, der ca. 5 x 4 m groß ist, liegen dicht an dicht ca. 40 Frauen und Kinder. Die meisten der Kinder sind erkältet und haben Durchfall. Schwester Ingrid verspricht, gleich am Montagmorgen Medikamente zu bringen.

Da die Untersuchungshäftlinge in vielen Fällen noch keine Verwandten haben, die sie mit Lebensmitteln versorgen, kauft die Missionsstation sonntags für sie ein. Außerdem hat Pater Erich einen Vorratsschrank und einen Gasofen im Vorhof aufstellen lassen.

Eine Frau erzählt uns, daß sie seit 14 Monaten in Untersuchungshaft sitzt. Das Gerichtsverfahren wird nicht eröffnet, weil es ihr bisher nicht gelungen ist, die Gebühr von 200 US-Dollar zu entrichten, was die Voraussetzung für die Eröffnung ist. Weinend bittet sie uns, mit der Justizbehörde zu sprechen, damit endlich das Verfahren eröffnet wird.

Die Umstände haben mich innerlich stark aufgewühlt. Den endgültigen Durchhänger bekomme ich, als mir eine der Frauen ihren Säugling übergibt, den sie kurz zuvor noch gestillt hat, - mit der dringenden Bitte, dieses "Geschenk" anzunehmen und dafür zu sorgen, daß es ein lebenswertes Leben haben wird.

Wütend, deprimiert und hilflos kehre ich in die Aldea zurück, um dort an der Abendmesse teilzunehmen. Die Kinder warten schon auf uns. Mit lautem "Hallo" werden wir begrüßt. Alle Kinder nehmen an der Messe teil. Ihr Gesang ist freudig und laut, und sie feiern voller Andacht die Heilige Messe mit.

Am Schluß der Messe bedanken sich zwei der älteren Kinder bei mir, dem Deutschen, der stellvertretend für alle Spender gekommen ist, um die Kinder zu besuchen. In Sprechchören bitten die Kinder darum, daß wir sie auch künftig nicht vergessen mögen.

Meine Stimme klingt belegt, als ich ihnen versichere, daß wir uns auch weiterhin engagieren werden.

Der Weg zum Auto dauert fast eine viertel Stunde. Jeder will mir noch einmal die Hand schütteln, sich an meinen Bartstoppeln kratzen und gestreichelt werden. Verstohlen wische ich mir ein paar Tränen aus den Augen, als sich der Land Cruiser den Weg durch die Kinderschar bahnt.

Beim Abendessen im Pfarrhaus erzählt mir Pater Erich von seinen Plänen, das Dorf um ein Haus zu erweitern und eine Mehrzwecksporthalle zu bauen.

Ein ortsansässiger Architekt hat bereits kostenlos erste Entwürfe ausgearbeitet und eine Kostenplanung erstellt. Trotz großer Eigenleistung werden ca. 220.000,-- DM benötigt, um das Vorhaben zu realisieren.

Beim Abschied gebe ich mein Wort, mich dafür einzusetzen, daß die Gelder für den Bau der Halle und auch für den Unterhalt der Missionsstation gespendet werden.

Als ich am Montagmorgen - die Sonne geht gerade über den Kordilleren auf - nach La Paz zurückfliege, ist die Welt für mich nicht mehr dieselbe wie beim Hinflug nach Cochabamba. Unter dem Eindruck des Erlebten habe ich den Kindern eine Zusage gegeben, die ich nun auch einhalten muß. Ich weiß nur noch nicht wie. Mit Ihrer Hilfe vielleicht?

Mittlerweile ist diese Mehrzweckhalle gebaut. Sie wurde mit allen Turn- und Sportgeräten bestückt, die für die Durchführung eines ordentlichen Sportunterrichtes notwendig sind. Die Mehrzweckhalle wird für viele Veranstaltungen genutzt und – sie bietet selbstverständlich auch ausreichenden Platz als Ort zum Spielen.

Die Anschaffung der Sportgeräte wurden durch Spenden der Pfarrgemeinde St. Ludgerus in Rheine möglich. Außerdem wurden zwei Kinderwohnhäuser für insgesamt 100 Kinder gebaut: Jetzt haben alle Kinder im Kinderdorf ein eigenes Bett – ein wunderschönes Gefühl.

Und im Anschluß daran werden jetzt Werkstätten errichtet, damit die Kinder nach der Schulausbildung eine wirkliche Chance haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen: Durch die Möglichkeit, ein solides Handwerk zu erlernen, hoffen wir, eine wirkliche Basis für ein gutes Leben „nach der Kinderdorfzeit“ zu schaffen. Die Vorbereitungen zu diesem neuen Projekt laufen schon auf Hochtouren.

Bernd Ostendorf, März 1998